Boulez meets KI: Ein Experiment im Festspielhaus Baden-Baden
- Tobias Rotsch
- vor 6 Stunden
- 5 Min. Lesezeit
Pierre Boulez wurde 100 Jahre alt, und zu diesem Anlass setzte sich das Festspielhaus Baden-Baden, quasi die Heimatstätte von Boulez, intensiv mit dem Werk des französischen Komponisten auseinander. Vor dem abendlichen Festakt vor über 2000 Zuschauern im wunderschönen Ambiente des Festspielhauses waren Kinder und Jugendliche zu einem inspirierenden Vormittag mit zahlreichen kostenlosen Workshops eingeladen. Im FestspielhausLab - MINT und Musik - durfte ich zusammen mit Achim Fessler, Fachberater für Musik des Regierungspräsidiums Karlsruhe und passionierter Musiklehrer am Gymnasium Hohenbaden, einen Workshop durchführen, der ziemlich spannende Frage aufwirft: Lässt sich ein so strukturierter Kompositionsstil wie die Zwölftontechnik besonders gut mit künstlicher Intelligenz umsetzen? Wie gehen Schüler*innen der Jahrgangsstufe 11 mit dieser praktischen Herausforderung um, und wie Beurteilen sie die Ergebnisse? Ganz nebenbei sollte natürlich eine Menge über Boulez und sein Werk gelernt werden.


Problem und Lösung
Mein Kollege Benedict Saurbier, wissenschaflicher Mitarbeiter am Music Technology and Digital Musicology Lab der Uni Osnabrück, recherchierte mit mir im Vorfeld, über welche vorhandenen Technologien möglichst niedrigschwellig ein Ergebnis realisierbar wäre. Dabei war es zu Beispiel nicht möglich, genügend relevante Daten aus Noten im PDF Format zu generieren, auch wenn einige Angaben teilweise von KI Technologien genutzt werden konnten. Auch konnte ChatGPT keine MIDI Dateien direkt erzeugen. Unsere Experimente mündeten in dem Konzept, Lilypond Daten von ChatGPT generieren zu lassen. LilyPond ist ein offener Standard für Notensatz, bei dem Musik in Form von einfachem Textcode eingegeben wird, um daraus Noten zu erzeugen.
Die Möglichkeiten der Prompt-Eingabe blieben somit flexibel. Die KI ließ sich vorab mit ausführlichen Informationen zur Kompositionstechnik in Textform, konkreten Zwölftonreihen oder hochgeladenen Lilypond Dateien füttern - das sogenannte Priming. Allerdings stellten wir fest, dass der Umfang der Prompts schnell ausgereizt war, und ChatGPT (in den Modellen 4o und 3.5) manchmal überfordert und fehleranfällig war.

Teil 1: Die Welt nach dem Krieg
16 Schüler*innen der Q1 waren zu Gast und brachten schon richtig gute Voraussetzungen mit. Sie hatten sich bereits im Unterricht mit Achim Fessler mit der Zwölftontechnik beschäftigt und sogar eigene Zwölftonreihen erstellt. Das war der perfekte Ausgangspunkt für unser Experiment.
Achim Fessler übernahm den ersten Teil und führte die Gruppe in die gesellschaftlichen Grundlagen der Nachkriegszeit ein. Die Voraussetzungen für kompositorische Arbeit waren nach dem Krieg komplett neu, Künstler*innen standen vor völlig anderen Sinnfragen und suchten nach progressiven, innovativen Ausdrucksformen. Besonders eindrucksvoll war dieser Vergleich: Die Schüler*innen hörten eine Bach-Komposition und dann deren Orchestrierung durch Anton Webern. Die Unterschiede wurden sofort deutlich – andere Tondauern bei Blasinstrumenten im Vergleich zum Cembalo, völlig neue Klangstrukturen. Der Weg führte über Schönberg zu Boulez, und Achim Fessler zeigte überzeugend, dass selbst in Schönbergs Zwölftontechnik noch "Schummeln" erlaubt war – etwas, das Boulez in seiner frühen Zeit stark kritisierte. Die Schüler*innen lernten, dass Boulez die strukturierte Kompositionstechnik seiner Vorgänger noch weiter verfeinerte. Er bezog die Strukturen nicht nur auf den Tonraum, sondern auch auf Dynamiken, Artikulationen und verschiedene Tondauern.
Das Paradoxe dabei: Während Boulez in seinen frühen Jahren extrem strukturiert arbeitete, erlaubte er im Verlauf seiner Biografie immer mehr Abweichungen. Das Gefühl und der Ausdruck in der Komposition gewannen an Bedeutung – manchmal musste man die Regeln brechen, um das Überraschende zu schaffen.
Teil 2: KI trifft auf strukturierte Komposition
An diesem Punkt kam ich ins Spiel. Die zentrale Frage: Kann eine so strukturierte Kompositionstechnik wie die Zwölftontechnik besonders gut mit KI umgesetzt werden? Zunächst tauschten wir uns über die allgemeine Funktion von KI aus – eigene Erfahrungen mit KI und häufige Bias, neuronale Netzwerke, die berühmte Blackbox, verschiedene Prompting Strategien. Wir sprachen anhand von Beispielen über den Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, über die Einordnung der Begriffe Machine Learning und KI, über halluzinierte Daten und die mangelnde Fähigkeit, völlig Neues zu erfinden. Die an dieser Stelle thematisierten ethischen Fragen wurden später in der Schlussdiskussion noch einmal aufgegriffen (Urheberrecht, Transparenz, mangelhafte Abbildung gesellschaftlicher Gruppen, Fairness & Gerechtigkeit, Fake Problematik, Ungenauigkeit, Nachhaltigkeit).

Da das Ganze als Lab-Format konzipiert war, lag der Fokus auf möglichst hoher Partizipation. Die Schüler*innen überlegten, wie man überhaupt durch einen Prompt zu einer KI-generierten Boulez- oder Zwölftonkomposition gelangen könnte, und hatten sofort die Idee, den gewünschten Prompt direkt von der KI selbst generieren lassen.
Das Prompt-Experiment
Sie wählten das ChatGPT Modell 4.5 und die DeepSearch-Funktion. Die Generierung dauerte überraschende zehn Minuten – dadurch konnte die Quellenarbeit und das Vorgehen von ChatGPT Stück für Stück mitverfolgt werden. Es las Wikipedia-Artikel zu Pierre Boulez und zur Zwölftontechnik, durchforstete mehrmals die gesamte Lilypond-Seite, um Code und Funktionsweise zu verstehen.Dazu konnte auf mehreren Geräten und in verschiedenen Tabs mit unterschiedlichen Prompts parallel gearbeitet werden.
ChatGPT stellte uns zunächst Rückfragen, die wir beantworteten. Was das Format der Komposition betraf, konnten wir auf die Erfahrungswerte aus der vorangestellten Recherche zurückgreifen. Das Ergebnis der Prompts wurde dann mit verschiedenen von den Schüler*innen erstellten Zwölftonreihen kombiniert. Der entstandene Lilypond-Code konnte mithilfe von Frescobaldi – einem Frontend-Programm für Lilypond – in PDF-Notenmaterial und eine MIDI-Datei umgewandelt werden.
Parallel experimentierten wir mit einem in unserer Forschungsgruppe selbst entwickelten Prompt. Hier kam die Priming-Methode zum Einsatz: Die KI wurde mit drei Python-Codes aus Boulez' Kompositionen geprimed – Sonate 1, Sonate 2 und der ersten der zwölf Notations. Das Ergebnis ließ sich gut von der nicht-priming-basierten Version unterscheiden.

Der Moment der Wahrheit
Jetzt wurde es richtig spannend: Wir konnten die KI-generierten Kompositionen anhören und mit den echten Boulez-Werken vergleichen. Eine besondere Situation war, dass alle Teilnehmenden bereits am Morgen in der Eröffnungszeremonie zwei Klavierstücke live im Festspielhaussaal gehört hatten, und so zusammen mit den bereits vorher analysierten Details bereits eine klare Vorstellung haben konnten.
Die Reaktionen waren vielschichtig. Einerseits zeigten sich die Schüler*innen begeistert von den technischen Möglichkeiten. Andererseits wurde schnell klar, dass die Ergebnisse – zumindest in diesem Entwicklungsstand und bei dieser Art der Technologienutzung – noch deutlich von Boulez' Originalwerken zu unterscheiden waren.
Eine Schülerin brachte es perfekt auf den Punkt: "Mir fehlt das Überraschende." Außerdem gab es klar hörbare Sequenzen, die sich wiederholten – etwas, das bei Boulez wahrscheinlich nicht in dieser Form geschehen wäre.
Was bleibt
Die KI hielt sich sehr gut an die Regeln der Zwölftontechnik. Und in den Aussagen einiger Schüler*innen wurde deutlich, dass die Grenzen zwischen Boulez-Komposition und KI-Komposition manchmal durchaus verschwimmen.
Alles in allem war es eine wertvolle Erfahrung. Das Projekt führte dazu, dass sich alle Beteiligten intensiv mit Boulez' Werk auseinandersetzten, während gleichzeitig zeitgeistige und relevante Technologieentwicklungen thematisiert wurden.
Die Technologie entwickelt sich rasant weiter. Was wir heute erlebt haben, könnte schon in einem Jahr ganz anders aussehen. Wir konnten nur einen kurzen Ausschnitt erkunden – mit aufwändigeren Prompts, mehr Zeit- und Feedbackschleifen oder einem speziell auf Boulez-Kompositionen trainierten Modell wäre sicherlich auch heute schon ein überzeugenderes Ergebnis möglich. Wir schauen mit Spannung in die Zukunft.
Danke an das Festspielhaus Baden-Baden, Achim Fessler und Benedict Saurbier für diese gemeinsame Erfahrung!
Mehr zu Boulez gibt es beispielsweise in dieser Dokumentation von SWR & arte in der ARD Mediathek. Zur Webseite des Festspielhauses: www.festspielhaus.de
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